Wir sprechen mit Kornel Miglus – dem Gründer und künstlerischen Leiter des 610 Berlin-Warschau Festivals – über die diesjährige Ausgabe, die Anfänge von 610 und die kulturellen Beziehungen zwischen Warschau und Berlin.
Als künstlerischer Leiter von 610, aber auch des Festivals FilmPolska in Berlin musst du hinsichtlich des deutschen Kinos auf dem Laufenden sein. Nach welchen Kriterien wurden die Filme für die diesjährige Ausgabe von 610 Berlin-Warszawa ausgewählt?
Worüber denkt der junge Künstler in Deutschland nach und was beschäftigt ihn, welche Träume hat er und welche Ängste, wie sieht er seine Protagonisten in der heutigen Welt. Alle Filme, die in Warschau gezeigt werden, stammen von Künstlern, die ganz am Anfang ihres beruflichen Weges stehen, deshalb sind diese Bilder voller Energie und Neugierde. Damit möchten wir dem polnischen Zuschauer eine Begegnung mit dem Kino ermöglichen, das gerade erst auf die große Leinwand kommt, wir wollen ihm die deutsche Filmkultur näherbringen als absolut lebendig und vielfältig in ihrer Sichtweise der Welt.
Woher kommt die Idee, gerade Warschau und Berlin zu verbinden?
Das ist wohl meine Lebensmission: zwei Kulturen miteinander verbinden, die sich so nah und so fern sind, und die unterschiedliche historische und gesellschaftliche Erfahrungen haben. Ich bin das Kind einer deutschen Mutter und eines polnischen Vaters, ich bin in Schlesien aufgewachsen. Seit über vierzig Jahren lebe ich in Deutschland und seit vierzig Jahren bewege ich mich zwischen den beiden Kulturen. Warschau und Berlin – das ist vielleicht Zufall, aber auch eine naheliegende Verbindung, die aus zahlreichen familiären, privaten und beruflichen Kontakten auf beiden Seiten der Oder entstanden ist. Das ist die Strecke zwischen beiden Hauptstädten, die ich viele Male zurückgelegt habe, das sind Freundschaften und Zufallsbegegnungen.
Worüber spricht das deutsche Kino in den letzten Jahren? Siehst du deutliche Richtungen, Themen, die immer wieder kommen, Grundlegendes, mit dem es kämpft?
So eine Frage zu beantworten ist immer schwierig. Das Kino, das wir in Warschau zeigen, ist ein suchendes Kino, gleichzeitig ist es verwurzelt in seiner Welt, es erzählt davon, was die Berliner hier und jetzt beschäftigt – „was mich beunruhigt, was mich berührt“. Hier fehlt es also nicht an Entfremdung, aber auch nicht an Engagement für die globalen Wirren in der Makroskala. Da ist die Sorge um den gesellschaftspolitischen Zustand des Landes, da sind Metaphern für soziale Ungleichheit. Wir haben die Ökologie und das Leben im brutalen Alltag der Großstadt, Ausgrenzung und Unterdrückung in der Provinz. Aber auch den braunen Neonazismus.
Die polnischen Filme, die in Berlin gezeigt werden, sind recht markante Bilder und – zum größten Teil – politisch eingefärbt. Willst du damit den deutschen Zuschauer mit schwierigen „polnischen“ Themen konfrontieren?
Die polnischen Filme im deutschen Festivalprogramm sind künstlerisch und formal ausgezeichnet. Sie erzählen von Polen und seinen Missständen, von der Lage junger Menschen, aber auch von historischen Verwicklungen, vom Phänomen der Religiosität und von der Reifung des weiblichen Bewusstseins, von Ängsten der Jugend und von der polnischen Kultur im globalen Raum. Was ihre Rezeption im Ausland betrifft, bin ich davon überzeugt, dass der deutsche Zuschauer sich nicht davor fürchtet und die Diskussion und den offenen Blick auf die Welt hinter der Grenze zu schätzen weiß.
Keine Gesellschaft ist frei von inneren Spannungen und hat ihre eigene Dynamik, und schwierige Themen aufzugreifen ist ein Merkmal für eine offene Gesellschaft, die keine Angst hat vor dem Dialog mit sich selbst.
Nur indem wir nicht die Augen vor eigenen Unzulänglichkeiten verschließen, können wir eine bessere Welt schaffen. Who is perfect? – In der Geschichte der Völker und in ihrem grauen Alltag ist das keine Schande, sondern eine Form der Transformation und der gesellschaftlichen Entwicklung. Die heutige Welt hat andere, wichtigere Probleme als das Gefühl ihrer eigenen Makellosigkeit.
Für das Festival habt ihr sogar die Strecke des Kulturzuges geändert, was wird dort stattfinden?
Ich bin selbst gespannt. Seit Jahren bin ich mit dem Kulturzug auf der Strecke Berlin-Wrocław unterwegs. Das ist eine Art bewegliche Brücke, die Polen und Deutsche über Literatur, Musik, Performance und über Gespräche zusammenbringt. Und das funktioniert ausgezeichnet. Deshalb haben wir beschlossen, im Rahmen von 610 den Zug auf die Strecke Warszawa-Berlin „umzuleiten“. Natürlich nur in einem kleinen Umfang, nämlich für die Dauer des Festivals.
Die deutschen Künstler, die nach Warschau eingeladen sind, werden auf ihrer Reise über alles mögliche diskutieren: über Gott, über Ökologie, über das Kino und über Kultur. Darüber, wie wir uns gegenseitig wahrnehmen. Auf dem Rückweg nach Berlin fahren mit dem gleichen Zug die polnischen Künstler. Die Gespräche sind offen für die Fahrgäste, es wird daraus eine filmische Dokumentation entstehen, und es besteht die Hoffnung, dass der Kulturzug in Zukunft auch nach Warschau und Gdańsk, nach Katowice, Krakau und Rzeszów fahren wird. Vielleicht ist das die beste Form, damit sich Stereotype und Vorurteile in unseren Köpfen auflösen.